Maries Gespenster

Leseprobe

Als sie die Mutter wegtrugen, muss sie sehr leicht gewesen sein. Ihre hohlen Augen blickten erstaunt, der Mund stand offen, als die Männer sie in die Luft hoben, und gab keinen Laut von sich. Ihr Körper war ein lustig verdrehtes Gestell, die grauen Haarzotten standen weit ab vom Kopf, wie bei Rumpelstilzchen. Als Rumpelstilzchens Name erraten worden war, fuhr es wutentbrannt in die Erde. Die Mutter aber starb schweigend.

Maries Gespenster, Roman von Simona Ryser
Limmat Verlag 2007




Inhalt

Marie wird nach dem Tod ihrer Mutter aus der Bahn geworfen. Verstrickt in innere Kämpfe um Ablösung und Erlösung, hangelt sie sich durch den Tag, lässt sich aushalten von Verehrern, sucht manchmal einen Job. Sie liebt Wolf, kauft mit Manfreds Kreditkarte ein, geht mit Hans aus. Vor allem streift sie ziellos durch die Stadt, und im Bus, im Bahnhof, in der Delikatessabteilung steht plötzlich die Mutter vor ihr. Mit Arbeitslisten der wichtigsten Dinge versucht Marie, in ihrem inneren und äusseren Durcheinander Ordnung zu schaffen.

In schlanker, musikalischer Sprache umkreist «Maries Gespenster» eine Geschichte von Verlust und Wiederfinden, von Abwesenheit und Begehren, von Trauma und Sprache. Wie ein Reigen tauchen Märchenelemente, literarische Verweise und Motive immer wieder auf und verdichten sich zu einem eindringlichen Text über eine grosse Trauer und die Suche nach einem Leben danach.

Ausgezeichnet mit dem Rauriser Literaturpreis und dem Studer/Ganz-Preis

Presse

«Simona Ryser hat ein virtuoses, kluges, federleichtes Prosadebüt veröffentlicht. Ein modernes Märchen vom Verlust; traurig, listig, mitunter komisch, und im besten Sinne eigensinnig. (…) Die sechsundsiebzig Miniaturen, aus denen das Buch besteht, sind wie Puzzlestücke verschiedener Spiele. Sie «passen» zwar ineinander, aber am Ende hat man mehrere über- und ineinander verschobene Bilder. Dabei ist das Buch nicht schwer zu lesen. Es hat die schlafwandlerische Sicherheit eines Traums, und man ist von der ersten Seite an mit dabei. Dieser Text berührt, geht einem nah und nach. Der Tod und sein Gegenteil, das Leben, sind unverständlich, und dieses Nichtverstehen artikuliert sich in einer Sprache, die einfach ist wie ein Kinderlied: dicht gearbeitet und klar gebaut.»

Sabine Peters, Basler Zeitung